Haff-Verlag
Texte zum historischen Handwerk in Mecklenburg- Vorpommern
Bandagist
Mit fortschreitender medizinischer Behandlung und Versorgung entstand Ende des 18. Jahrhunderts das Handwerk der Bandagisten, die durch ihre praktischen Kenntnisse schnell großen Zuspruch bei den Leuten erfuhren und die bereitwillig bei ihnen heilende Hilfe suchten. Die sich in dieser Zeit rasant entwickelnde Medizin musste sich von Anfang an der Konkurrenz mit den handwerklichen Spezialisten stellen. Denn die wissenschaftlich gebildeten Ärzte in der Stadt mit ihren modernen Behandlungsmethoden erweckten oft Misstrauen oder gar Ablehnung, was z. B. operative Heilung von Leibes- und anderen Brüchen anging, sie wurden lange Zeit am praktischen Handwerker gemessen. Da gingen die hilfebedürftigen Leute zum Bandagisten, wo beispielsweise die Verbandsmaterialien und andere Heil- und Hilfsmittel sichtbar auslagen. Die Meister fertigten in ihren Werkstätten für die medizinische Versorgung chirurgische Verbände und Materialien, Scharpie (Wundfäden) von allen Qualitäten für den Chirurgen, Binden von jeder Länge und Breite, Kompressen von jeder Größe, außerdem Bänder, Schnüre (Korsetts), Mieder, Schienen, Polster, Polsterkissen, Apparate aller Art von Gummiharz; auch kleinere chirurgische Instrumente, die in Etuis u. Bindetaschen auf Reisen bei plötzlichen Unglücksfällen von großem Nutzen waren.
Bandagisten galten als gebildete Leute, sie verfügten über allgemeine medizinische Grundkenntnisse und waren in der Gesundheitspflege bewandert. Ihr Wissen hatten sie nicht nur in der Werkstatt erworben, sondern vor allem im praktischen Umgang mit den Hilfebedürftigen. Dazu kamen stets neue technische Kenntnisse, die notwendig waren, um ein nutzbares Bruchband zu verbessern. Als guter Mechaniker beherrschte der Meister die Schlosser- und Schmiedekunst, auch mit der Sattlerei und Feinmechanik war er vertraut.
Hauptsächlich verhalfen die Bandagisten mit ihrer Arbeit Menschen, die an jede Art von Unterleibsbrüchen litten und zur helfenden Stützung mit Bruchbandagen versorgt werden mussten. Da direkte, operative Methoden zur Schließung der Bruchpforten in der Chirurgie noch nicht ausreichend entwickelt waren, blieb die Anlegung eines starken Verbandes zur Zurückhaltung des Bruchs die einzige anerkannte Hilfe war.
Im 19. Jahrhundert wurden zwei Arten von Bruchbändern gefertigt, einmal das starre Bruchband und zum anderen das federnde. Das unbewegliche Bruchband war ein auf Maß zugerichteter Lederriemen, der um den Leib gebunden wurde mit aufsitzender Pelotte (Druckplatte). Allerdings war diese Bandage auf die Dauer schwer zu ertragen, da die Bewegungsmöglichkeit stark eingeschränkt wurde. Das „elastische“ Bruchband dagegen bestand aus einer wie ein Reif um den Körper führenden, mit Leder, Gummi oder Stoff überzogenen, gut gehärteten Stahlfeder. Besondere Schwierigkeiten machte die Bestimmung der Federstärke, da sie für jeden von diesem Leiden betroffenen Menschen speziell ausgemessen und angefertigt werden musste. Geduld und praktische Erfahrung, meist durch wiederholtes Probieren am Körper, brachten ein befriedigendes Ergebnis, sodass die optimale Federkraft für eine ausreichende Bewegung ermittelt wurde. Und zum Schluss einer Anpassung wurde noch abgeklärt, ob das Bruchband auch in jeder körperlichen Haltung die Erwartung erfüllte: in aufrechter und sitzender Stellung, beim Gähnen, Lachen, Husten, Bücken, Treppensteigen. Diese aufwendige Prozedur wurde nach 1850 einfacher, denn die Erfindung von neuen Materialien aus elastischem Gummi-Gewebe, damit ohne Beifügung von Stahl, erleichterte die körperliche Anpassung.
Die Bandagisten waren wichtige Handwerker, so zählten im 19. Jahrhundert verschiedene Unterleibsbrüche wie Leistenbrüche oder Bauchwandbrüche zu häufig auftretenden Krankheiten und Leiden. Ursachen dafür gab es verschiedene, die oft in den Lebensbedingungen der Menschen lagen, einerseits durch schwere körperliche Arbeit und andererseits durch mangelnde Bewegung (sportliche Aktivitäten). Die allgemein einseitige Ernährung in den Familien und besonders viele Schwangerschaften bei Frauen taten ihr Übriges für die Häufigkeit dieses Leidens. Von erblich vorbelasteten und altersbedingten Gewebeschwächungen und von Unfällen einmal abgesehen. Die wohlhabende Schicht der Bevölkerung blieb von der Krankheit mehr verschont als die ärmere, arbeitende Klasse. Bei Handwerkern in stehender Arbeit trat sie dreimal häufiger auf als bei Handwerkern mit sitzender Tätigkeit, außer bei den Schustern, die ihren Bauch bei der Arbeit stark zusammenpressten.
Es gab nach 1800 neben der medizinischen Fachliteratur zu Unterleibsbrüchen für die Ärzte allerhand gedruckte Belehrungen und medizinisch-aufklärerischen Schriften für die Bevölkerung, um dieser beunruhigen Entwicklung entgegenzuwirken. Tatsache ist, dass sich bei diesen Gesundheitsfragen nicht selten Bandagisten mit Hilfs-Schriften beteiligten und für Aufklärung sorgten. Hervorgehoben sei nur Gottfried Wilhelm Beckers: „Das wahre Noth- und Hülfsbüchlein für Bruchkranke aller Art“ aus dem Jahre 1807.
Die Krankheit bot dem Handwerk der Bandagisten ein breites und anerkanntes Betätigungsfeld, dagegen hatte es das ausgebildete Medizinal-Personal, insbesondere die nach 1780 auftretenden Orthopäden, hier schwer Fuß zu fassen. Der Bandagist bot dem Hilfsbedürftigen sachkundig alles was dringend und schnell gebraucht wurde, er war ein selbstständiger Handwerker und stand in den Augen des Patienten lange Zeit über dem Ansehen der Orthopäden.
So gründeten Bandagisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts orthopädische Anstalten bzw. Institute und in Zusammenarbeit mit chirurgischen Instrumentenmachern konnten sie ein breites Spektrum medizinischer Leistungen abdecken. Über die Anfertigung von Bruchbandagen hinaus boten sie bald auch nach Maß gefertigte künstliche Gliedmaßen, Augen, Gelenke an, was insbesondere bei der Behandlung Verkrüpplungen, Verkrümmungen, Versteifungen usw. notwendig war. Bandagisten arbeiteten mit zunehmendem Fortschritt medizin-technisch auf einem hohen Niveau. Für die Londoner Industrie- und Kunstausstellung (Weltausstellung) 1862 nominierte die Großherzoglichen Kommission zu Schwerin aus der großen Handwerkerschar Mecklenburgs mit Rudolph Ahrens (Neubukow) auch einen Bandagisten, mit Bruchbandagen eigener Fertigung und einer ledernen Jagdtasche. Zehn Jahre arbeiteten auch die Rostocker Bandagisten Abtshagen und Ebel sowie die chirurgischen Instrumentenbauer Achilles, Mössing und Witt zur vollsten Zufriedenheit ihrer Kunden.
Der Erfolg gab den Handwerkern durchaus recht, obwohl sie in der mecklenburgischen Medizinalverordnung keine Aufnahme gefunden hatten und demzufolge im Grunde nicht praktizieren durften. Die Meister hüteten ihr Handwerksgeheimnis vor den Ärzten und gaben ihr Wissen nur in der Lehrausbildung frei.
Ebenso versuchten die gelernten Mediziner ihre Kompetenz mit der Bildung von orthopädischen Instituten sowie mit Anstalten für Heilgymnastik aufzubessern. Der aus Rostock stammende Dr. med. Johann Julius Bühring, Neffe des bekannten Hochschulchirurgen Dieffenbach, gründete 1850 mit Weichenthal in Berlin ein orthopädisches Institut mit Maschinentherapie (hauptsächlich mit Streckbetten), Tenotomie und Gymnastik. Später, um 1900 entstand in Rostock das (universitäre) Institut für Heilgymnastik der Ordinarien der Chirurgie Garré und Wilhelm Müller, dem eine heilgymnastische Privat-Anstalt mit dem Institut für Lichttherapie von Dr. Burchard folgte. Bis zum 1. Weltkrieg aber hatten sich die ärztlichen Dienstleister durchgesetzt.
Autorin: Hannelore Kuna