Haff-Verlag
Texte zum historischen Handwerk in Mecklenburg- Vorpommern
Die Erfindung der Dachpappe stammt aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts und hatte in Norddeutschland ihre Wurzeln. Die Produktionsidee war einfach und innovativ zugleich. Starkes Papier bzw. Pappe musste mehrmals in heißem Teer getaucht und abschließend mit grob gepulvertem Granit, Kies oder Steinpulver bestreut werden und so gewann man eine schützende, preisgünstige Dachbedeckung von geringem Gewicht.
Die Grundmaterialien Papier und Teer waren seit Jahrhunderten bekannt, wurden regelmäßig hergestellt und einzeln verwendet. Die Zusammenführung der Materialien gelang erst im 19. Jahrhundert, als man ein festes und wettersicheres Material suchte. Mit der Dachpappe konnten insbesondere flache Dächer regensicher und preiswert gedeckt werden. Später diente das neue Material zu verschiedenen Verwendungen, hervorragend eignete es sich als Isolierung gegen Feuchtigkeit zwischen dem Fundament und dem Gemäuer.
Jedoch musste sich die allgemeine Anwendung des neuen Materials im Bauhandwerk und speziell der Dachdeckerei in Rostock erst einmal Durchsetzen. Tatsächlich gingen die Handwerker, Kundschaft und allen voran die Behörden zunächst auf Distanz. Das Misstrauen war so groß, dass eine Bauverordnung des Rostocker Rats vom 29. März 1826 es untersagte im heimischen Wohnungs- und Wirtschaftsbau hölzerne Bedachungen mit „Überlagen von geteerter Leinwand oder geteerter Pappe“ anzuwenden. Die berechtigten Fragen nach der Haltbarkeit und Lebensdauer der Pappe, nach der Sicherheit vor dem Durchregnen, alles im Vergleich zum Dachziegelstein und zu Reet, konnten aufgrund der geringen Erfahrungen nicht überzeugen.
Die größten Ängste wurden wegen der Brandgefahr geweckt. Es gab in Rostock Feuerwehr-Experimente, bei denen man Scheunen mit einem Ziegel-, Reet- und Pappdach nebeneinander abbrannte, um zu einem aussagefähigen Ergebnis zu gelangen. Erst 1846 beseitigte eine neue Ratsverordnung die technischen Vorbehalte und gestattete die Anwendung der Dachpappe unter festen Auflagen, wie Steinauftrag der Pappe und Begehbarkeit der Dächer usw. Keine andere Dachkonstruktion wie das Flachdach ließ ja die Begehbarkeit des Daches bei einem Brand durch die Löschmannschaften zu. Nun konnte die Dachpappe in Rostock mit amtlicher Genehmigung ihren Siegeszug antreten, sodass nach gewisser Zeit der praktischen Anwendung und Prüfung die Feuerversicherungsgesellschaften das Pappdach zu denselben Konditionen aufnahmen wie das traditionelle Ziegeldach.
Dieses Papp-Material ließ Flachdächer regensicher eindecken, wofür die es bis dahin keine entsprechende Baulösung gab. Aufgrund der geringen Dachneigung eigneten sich dauerhaft weder Dachziegeln, Reet oder Stroh und eine Eindeckung mit Zinkblech, Weißblech, Schwarzblech oder Kupfer war viel zu teuer. Experimente Anfang des 19. Jahrhunderts mit Lehmdächern, Ölzement usw. hatten keinen Erfolg gebracht. Mit der Fertigung der Dachpappe konnte die Baumeister und Architekten neben den traditionellen Steildächern, wie Sattel-, Mansarden- oder Walmdächern, nun ebenso das Flachdach bzw. das Pultdach in den Städtebau sowohl für Wohn- als auch für Gewerbezwecke aufnehmen.
Der Bauvorteil für die Bauherren lag wirtschaftlich auf der Hand, es bedeutete eine Einsparung von Zimmermannsarbeiten und Material, da die Leichtkonstruktion des Dachstuhls weniger Holz forderte. Für die Dacheindeckung senkten sich die Kosten, gebraucht wurden Schalung, Dachpappe, Teer und Nägel. Die Arbeit war einfacher und unkomplizierter als die Ziegeldeckerei und konnte selbst mit Hilfskräften ausgeführt werden.
Der Rostocker Wohnungs- und Industriebau Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert nutzte die wirtschaftlichen Vorteile des Flachdaches sichtbar aus. In den hohen, vierstöckigen Wohnbauten der Vorstädte kamen sie zur Ausführung und in großflächigen Industriebauten wie Produktionshallen, Lagerhallen usw. bevorzugte man den Flachdachbau mit Pappe.
Der Rostocker Kaufmann Dietrich Riedel begann als erster Produzent in Deutschland in seinem 1840 gegründeten Unternehmen an der Tessiner Chaussee bei den Krammonstannen fabrikmäßig Dachpappe herzustellen. Das Unternehmen, das noch heute unter dem Namen „Riedelsche Baustoffe“ existiert, ist überhaupt eines der ältesten Rostocker Betriebe.
Riedel kam aus der Kaufmannschaft und hatte als Papierhändler seit 1833 vielseitige Erfahrungen mit diesem Material gesammelt und sich in der Branche einen anerkannten Namen gemacht. Er vertrieb in der Mühlenstraße Nr. 12/Ecke Grubenstraße die qualitativ besten Papiersorten aus mecklenburgischen Papiermühlen, wie zum Beispiel der Firma Schöller & Bausch aus Neu Kalließ. Bei Riedel konnten selbst Bücher und Lithografien gedruckt werden, da die Papierqualität zuverlässig war.
Die besondere Kenntnis über die Papierherstellung und damit zu den verschiedenen Papierqualitäten machte es ihm möglich sein Geschäftsfeld mit eigener Dachpappenherstellung in einer Fabrik im Osten Rostocks umfassend zu erweitern. Sein Schwager, der Kaufmann August Bernhard Friedrich Dahse, trat in das Riedelsche Unternehmen ein und übernahm nach dem Tod des Firmengründers 1859 die Fabrik Riedel.
Die ersten Pappen stellten die Rostocker Firmen in Plattenformen in Größen von circa 3 Mal 3 Fuß her, die in Ballen zum Zentnergewicht in den Handel gelangten. Die Pappeherstellung war mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden, ein großer Teil der Arbeitsschritte wurde in Handarbeit durchgeführt. Wie bei der Papierfertigung wurde von Lumpen (Wolle, Leinen) in Kesseln ein Papp-Brei gekocht, der von den Arbeitern abgeschöpft und in eine Form eingegossen wurde. Die geschöpfte Masse wurde nicht gepresst, die Fasern blieben dadurch lang und konnten sich auf natürliche Weise zusammenziehen.
Ab 1858 fertigte man Rollpappe in Bahnen, wodurch Walzen und Pressen auch für dieses grobe Material eingesetzt werden konnten. Eine enorme Verbesserung wurde durch den Einsatz einer Dampfmaschine erreicht. Platten wie Rollen wurden in den letzten Arbeitsgängen durch heißen Teer gezogen und besandet.
Die Rostocker Dachpappenfabrikation zeugte von Anfang an von Qualität und stellte sich der insbesondere der ausländischen Konkurrenz. Auf der Ausstellung der 22. Versammlung Deutscher Land- und Forstwirte zu Schwerin vom 11. bis 18. September 1861 stellte die Rostocker Firma aus und erwarb lobende Anerkennung. Auf der Industrie- und Kunstausstellung in London 1862 (3. Weltausstellung) war die Firma Riedel erfolgreich und überzeugend vertreten. Auf der Internationalen Landwirtschaftlichen Ausstellung zu Köln vom 2. Juni bis 2. Juli 1865 präsentierten sich L. Gänicke aus Wittenberge und August Bernhard Friedrich Dahse aus Rostock, Inhaber der Firma Diedrich Riedel, mit verschiedenen Dachpappenfabrikaten. Auf der mecklenburgischen Erzeugerseite kam um diese Zeit noch die Firma Engel und Comp. aus Wismar hinzu.
Um diese Zeit verringerte sich nachweislich die Einfuhr für diese Baumaterialien über den Seehandel. In Mecklenburg wurden an Dachbedeckungsmaterialien im Jahr 1853 eingeführt: 335 Zentner Dachpappe (per Eisenbahn), 2585 Zentner Dachrohr, 76.241 Dachpfannen (davon 2532 Zentner über den Hafen Rostock) und 643 Zentner Dachschiefer über den Seehafen Wismar (oder 82500 Stück). Drei Jahre (1856) später wurden nur noch 18 Zentner Dachpappe und davon 13 Zentner per Schiff über Rostock importiert, denn weitgehend deckten die mecklenburgischen Dachpappfabriken den heimischen Baumaterialienbedarf für Flachdächer ab.
Die Riedelsche Fabrik wurde um 1870 durch maschinelle Anlagen und Dampfbetrieb modernisiert und 1890/91 vergrößert. Im Jahr 1920 erwarb der Kaufmann Hans Burchard das Unternehmen und führte es unter der Bezeichnung „Riedelsche Dachpappenfabrik - Hans Burchard“ weiter. 1928 brannte die industrielle Anlage nieder und wurde am Petridamm wieder aufgebaut. Dem Unternehmen war kein Glück beschieden, denn kurz nach dem Wiederaufbau, 1930, brannte das Werk erneut ab. Einmal mehr gelang der Aufbau und wurde zugleich mit einer Destillation zur Steinkohlenteergewinnung stark vergrößert. Die Jahresproduktion betrug dann rund 400 Tonnen Teer. Nach 1945 konstituierte sich das private Familienunternehmen neu und brachte die Produktion in Gang. 1972 erfolgte die Verstaatlichung der Riedelschen Fabrik zum VEB.
Autorin: Hannelore Kuna