Haff-Verlag
Texte zum historischen Handwerk in Mecklenburg- Vorpommern
Glockenritzer
Kirchen gehören zu ältesten Denkmälern, die manche kunsthistorische Besonderheiten in sich bergen und heute dadurch wertvolle Auskunft über längst vergangene Zeiten und deren Meister erzählen, die sie einst erschufen. Eine dieser kunsthandwerklichen Besonderheiten sind die Glockenritzungen in den Glocken der Gotteshäuser. Rostock zählte zu den deutschen Glockengießerstädten, die sich einen namhaften Ruf hier im Norden erwarben. Insbesondere Ende 14. und Anfang 16. Jahrhundert wurde dieser Ruf durch die Gießerwerkstatt des Rickert de Monkehagen geprägt und weitergegeben. Viele mittelalterliche Kirchenglocken wurden mit religiös-sinndeutenden Verzierungen angefertigt, diese handwerkliche Art der Ausschmückung wurde früh von Rostocker Meistern ausgeführt. Eines der bedeutenden Verfahren hierfür war das Ritzen bzw. Reißen in das empfindliche Rohmaterial. Insgesamt sind heute auf deutschem Boden 325 Exemplare geritzter Glocken mit Inschriften und Zeichnungen als besonderen Schmuck erhalten. Im Ausland wurden bisher 11 Stück solcher Art geschmückter Glocken aufgefunden.
Ursprünglich waren die christlichen Glocken als reine Klangkörper gefertigt worden, um mit ihrem besonderen Glockenklang der Gemeinde dienlich zu sein. Allmählich setzten sich ab dem 11. Jahrhundert vereinzelte Namenszeichen, karge Inschriften oder einzelne figürliche Darstellungen mit religiöser Symbolik auf den Glocken durch. Künstlerisch gehörten die Zeichnungen zur mittelalterlichen Grafik, die sich am Material entfaltete, handwerklich begeisterten sich meist Kupferstecher an so einem Auftrag oder äußerst begabte Glockengießer hinterließen ihre individuellen Spuren. Eine bleibende Profession etwa als „Glockenritzer oder Glockenreißer“ oder Glockenzeichner konnte sich kaum herausbilden, denn die Aufträge waren vermutlich zu gering, um den Lebensunterhalt ausreichend zu sichern. Wie bei vielen Künsten des Mittelalters blieben auch die Namen dieser Glockenkunsthandwerker meist unbekannt. Außerdem ist das Auftreten von Glockenritzungen zeitlich und räumlich eingegrenzt, was kunsthistorische und denkmalpflegerische Untersuchungen anhand von Glockenanalysen ergaben. Bemerkenswert ist dabei, dass diese geschmückten Glocken nicht nur speziell dem Spätmittelalter angehörten, sondern auch territorial von der Nord- und Ostsee her auf die natürlichen Grenzen von Weser, Werra, Thüringer- und Frankenwald, Erzgebirge, Neiße und Oder begrenzt zu finden waren. Die früheste datierte Glocke mit einer geritzten Darstellung stammt aus dem 12. Jahrhundert, um 1500 verschwanden die schönsten Schmuckelemente bereits wieder, da der Gebrauchsverlust hoch war.
Im Kern ist die Glockenritzung ein besonderes künstlerisches und handwerkliches Verfahren zur Verzierung einer Bronzeglocke, denn jede Fertigungsart von derlei schmückenden Elementen hängt allgemein eng mit dem Guss zusammen. Zur Herstellung einer Glocke sollten stets drei Formteile gearbeitet werden: Kern, falsche Glocke bzw. Hemd und Mantel. Nach dem ältesten Verfahren, dem Wachsausschmelzverfahren, wurden die Verzierungen auf die geformte, weiche Wachs- oder Talgmasse eingeschnitten und erschienen nach dem Guss auf der Glocke vertieft. Seit dem 12. Jahrhundert löste das „Mantelabhebverfahren“ die Wachsausschmelze ab.
Zunächst wurde dabei der hohle Kern aufgemauert, auf diesen nach einer Wachsschicht das Hemd (oder die falsche Glocke) aus Lehm gelegt und ebenso mit Talg und Wachs überzogen; über das Hemd kam der Mantel aus Lehm. Beim Trocknen durch Wärme schmelzten die Talg- und Wachsüberzüge, der Mantel ließ sich vom Hemd abheben, das Hemd vom Kern abschlagen und zwischen Kern und Mantel blieb der erforderliche Gussraum frei.
Die Verzierungen konnten dabei auf der falschen Glocke (Hemd) angebracht oder wie bisher in Wachs eingeschnitten werden. Die Herauslösung des Mantels ermöglichte nunmehr eine dritte Verzierungsweise: die Einritzung der Zeichnung in den Mantel. Der Künstler oder Schreiber ritzte das Darzustellende mit einem Stichel in die Innenwandung des abgehobenen Mantels ein. Auf der gegossenen Glocke erschienen dann diese zierlichen Liniengebilde als wenig aufgesetzte, erhabene Striche. Das Einritzen oder Reißen, wie man früher sagte, geschah seitenverkehrt, um die Darstellung oder Inschrift nach dem Guss richtig zu erscheinen zulassen.
Die Ritztechnik begann mit der Darstellung von Inschriften und ging erst danach zur Gestaltung von Ornamenten u. a. über. Die Glocke aus der Marienkirche zu Rostock aus der Zeit um 1300 weist eine hervorragende Arbeit mit Inschrift auf. Reich verzierte Buchstaben von 10 cm Höhe wurden hier spiegelbildlich in den spröden Lehm gearbeitet. Am Ende hinterließ der unbekannte Meister eine Inschrift, die ein erstaunlich hohes handwerkliches Können voraussetzte. Nachdem Schrift und Ornament als Ritzungen zum festen Bestandteil der Glockenzier geworden waren, begann man figürliche Ritzungen auf Glocken anzubringen. In der Wahl der Darstellungen nahmen die „Reißer“ allgemeine Symbole und religiöse Ideen der christlichen Ikonografie auf: Heiligenritzungen, Schutzpatrone der Kirchen, Darstellungen aus dem Leben Christie wie die Kreuzigung. Aber auch persönliche Stifterbildnisse und traditionelle Tierdarstellungen wurden als Motive aufgenommen.
Die Gestalten auf der Glocke der Rostocker Marienkirche von 1409 oder die Johannisfiguren auf einer Glocke in Rerik um 1460 (zerstört im 2. Weltkrieg) fanden immer wieder besondere Anerkennung. Bei der Rostocker Glocke von St. Marien aus der ursprünglich hier ansässigen Werkstatt des Rickert de Monkehagen aus dem Jahr 1409 stehen die Figuren, wie die Muttergottes, auf Felsenboden oder Erdhügeln. Die Darstellung des Bartholomäus und der Johannesfigur zeigen einen weichen Stil in voller Entwicklung. Die Gestalten tragen schwungvoll gefaltete Gewänder, die in fließenden Linien auslaufen.
Die älteste Glocke der Marienkirche um 1290 datiert, mit einem Durchmesser von 170 cm, wurde mit einer schönen Majuskelinschrift versehen, man findet keine figürliche Darstellung darauf. Die zweitälteste Glocke von St. Marien, Gussjahr 1379 mit einem Durchmesser von 177 cm, gibt weder Inschriften noch Figuren preis. Auf der alten Glocke der zerstörten Jakobikirche, Gussjahr 1400 mit einem Durchmesser von 169 cm, ist der Patron Jakobus der Ä. dargestellt. Eine Glocke der Nikolaikirche aus dem 15. Jahrhundert mit einem Durchmesser von 170 cm und ohne Inschrift, zeigt die Figuren von Nikolaus (Patron) und Maria mit Kind, sie enthalten das Gießerzeichen des Rickert de Monkehagen.
Die im 2. Weltkrieg vernichtete Glocke von St. Nikolai aus dem Jahr 1394, im Durchmesser von 170 cm und ohne Inschrift, zeigte Nikolaus, Katharina, Maria mit Kind und den Bettler. Auch diese Arbeit stammte ebenfalls aus der Gießerwerkstatt von Monkehagen.
Später, also im Verlauf des 18. Jahrhunderts machten hier ansässige Glockengießer wie Siebenbaum und Schultze über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus von ihrem meisterlichen Können reden.
Autorin: Hannelore Kuna