Haff-Verlag
Texte zum historischen Handwerk in Mecklenburg- Vorpommern
Reifer, Seiler
In Norddeutschland wurden die Seiler im niederdeutschen Sprachgebrauch als Reifer und Reper (auch Reeper, ganz früher repwindere, repslagere) bezeichnet. Reifschläger auch Reepschläger nannte man die Handwerker in den Küstenstädten, da sie hauptsächlich sehr starke und geteerte Schiffstaue für die unmittelbar vor der Haustür liegenden Schiffe anfertigten. Die Produkte der Seiler und Reifer wurden ursprünglich vielfältig gebraucht und waren nicht aus dem Arbeitsalltag wegzudenken, dazu gehörten seit Alters her Taue, Seile, Stricke, Stränge, Schnüre, Bindfaden usw.
Denn sämtliche Arbeitsgerätschaften und Dinge mussten zusammengebunden, festgehalten, gehoben, gezogen oder fortgeschafft werden und dafür brauchte man verschiedenste Seilqualitäten bis hin zum festen Tau. Angefangen zum Hochheben von schweren Feldsteinen beim Bau von Kirchen und Burgen, für den Glockentransport auf einen hohen Kirchturm, für die Schiffstakelung, zum Lenken der Segel, zum Treideln (Ziehen) oder Festmachen der Schiffe und vielen anderen Verrichtungen. Neben geschmiedeten Ketten war dieses Arbeitsmittel beweglich und fest verarbeitet, sodass es gehörige Massen aushalten konnte. Viele frühe mechanische Gerätschaften, wie Hebel, Walzen, Flaschenzüge, Rammen und Göpel, hätten ohne Seile nicht funktionieren können.
Rostock besaß ebenso wie Hamburg, Lübeck oder Wismar eine Reiferbahn. In der Enzyklopädie von Kugel aus dem Jahr 1817 wird die Stadt Rostock in Mecklenburg beschrieben mit 12.507 Einwohnern, 2.182 Häusern, einer Universität, mit Gerberei, Branntweinbrennerei, Leinweberei, Ankerschmiede, Schiffbau, Reeperbahn und sehr wichtigem Handel aus dem Seehafen bei dem Flecken Warnemünde.
Beinahe alle Zünfte in Rostock: Bäcker, Böttcher, Bootsbauer, Dachdecker, Fischer, Fleischer, Kürschner, Maurer, Müller, Sattler, Schiffbauer, Schmiede, Segelmacher oder Zimmerleute, selbst der Scharfrichter, brauchten den Reifer. Doch nur wenige mittelalterliche Zeugnisse über Reifer und Seiler sind erhalten.
In Rostock wird 1280 ein Reifer Namens Hinricus Repwindere in den ältesten Stadtbüchern erwähnt. Einige Jahre früher um 1261 gab es in Bremen einen Nicolaus Selslaghere 1261 und 1265 in Hamburg einen Ricardus Repslegere. Erste Amtsrollen in Norddeutschland datieren von 1375 aus Hamburg, 1387 von Wismar und 1390 aus Lübeck. Die genaue Entstehungszeit einer Rostocker Amtsrolle ist nicht belegbar. Aber Anfang des 15. Jahrhunderts hatte das Amt der „Repere“ 10 Bewaffnete zu stellen und noch 1782 zählte das Amt 10 Mitglieder.
Das Material aus dem Seile gefertigt wurden, war hauptsächlich Hanf und nur für sehr dünne Seile kam auch Flachs infrage. Die natürlichen Bedingungen in Mecklenburg hätten einen einheimischen Hanfanbau wohl zugelassen, jedoch fehlte das spezielle Wissen und auch wirtschaftliche Interesse der Bauern. So wurde vom Spätmittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Hanf in großen Quantitäten importiert. Riga und Reval waren bedeutende Umschlagplätze für russischen Hanf. Dagegen sehr wertvoll von der Qualität her, aber wesentlich teurer waren rheinischer und italienischer Hanf.
Die Seilerarbeit begann bereits mit der Vorbereitung des Hanfs für die weiteren Arbeitsschritte. Aus dem Hanf-Rohmaterial musste zunächst der Faden hergestellt werden, der gesponnen wurde. Als wichtigstes Handwerkszeug wurde dafür das Seilerrad benutzt, das in einem Holzbock stand, mit einem Vor- und Hinterrad. Es ähnelte dem Handrad zum Spinnen, wann es erfunden wurde, ist unbekannt. Für längere Fäden brauchte der Seiler einen Gehilfen, das konnte ein Lehrling oder Tagelöhner sein, der das Rad drehte. Der Seiler trug den Hanf um seinen Leib oder in einer Schürze. Er knüpfte eine Öse aus einem Büschel Hanf und hängte diese in den Haken ein. Das Spinnen vollzog sich beim Rückwärtsgehen des Seilers, während zugleich der Lehrling das Rad drehte und den Faden aufwickelte. Auf der Länge der Strecke wurde der Faden mit Holzgabeln oder Rechen gestützt. Die Arbeitsleistung konnte allgemein bei 15 Meter Faden pro Minute liegen.
Die Stärke des Fadens bzw. des Garns richtete sich am Ende nach dem herzustellenden Endprodukt. Stärkstes Garn wurde für die dicksten Taue (Ankertaue) gebraucht. Bei einer 1000-1200 Fuß langen Bahn (bis zu 360 m), rechnete man etwa 3 Pfund Hanfverbrauch auf einen Faden. Von der Strecke, die der Handwerksmeister abschritt, stammen die Bezeichnungen Seiler- und Reiferbahn. Der Seiler fertigte Fäden bis zu 50 Meter Länge, die Seilerbahnen befanden sich meist parallel zur Stadtmauer.
Dagegen konnte die Fadenlänge beim Reifer über 300 Meter betragen, er brauchte viel Platz, die Reifer- oder Reeperbahn lag deshalb oft außerhalb und weiter entfernt von der Stadtmauer. In Rostock befand sie sich vor dem Steintor, woran die heutigen Straßen Reiferbahn und Reiferweg in der Steintor-Vorstadt noch erinnern.
Der weitere Arbeitsgang lag in der Herstellung der Litzen bzw. Schnüre aus mindest zwei Fäden. Dabei wurden mehrere gespannte Fäden wieder unter Benutzung des Seilerrades und eines speziellen Seilergeschirrs miteinander verdreht. Die Richtung bei der Verfertigung der Litze musste der Richtung beim vorangegangenen Spinnen entgegengesetzt sein. Auch hierfür musste die zweite Person das Rad drehen.
Im letzten Arbeitsschritt wurden einzelne Litzen zu einem Tau oder Seil miteinander verdreht. Eine Litze bestand aus mindest 2 Fäden, ein Seil aus mindest 2 Litzen und ein Tau aus mindest 4 Litzen. Starke Taue erforderten großes Geschirr.
In der Seestadt Rostock fertigten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Reifer bzw. Reeper hauptsächlich Produkte für den Schiffbau. Über jeden Schiffsneubau wurde ein Baukontrakt zwischen Kapitän und Schiffsbaumeister abgeschlossen, mit dem Ziel, dieses see- und segelfertig abzuliefern, woran auch das Handwerk der Reifer beteiligt war. Die größten Segelschiffe, Vollschiffe und Barken, wurden in Rostock in der Zeit von 1839 bis 1885 gebaut. Für diese Schiffe mit einem Rauminhalt von über 180 Lasten wurden kräftige Taue und Seile gebraucht. Die wichtigsten Reiferartikel im Schiffsbau waren Ankertaue, stehendes und laufendes Tauwerk.
Das stärkste Tauwerk bildeten die Ankertaue (Kabeltaue, Trossen) mit einem Umfang bis über 60 cm, die zusammengedreht aus 3 Strängen zu drei Litzen oder Kardeelen (jede mit 191 Fäden) bestanden, sodass auf der bestellten Länge insgesamt 1719 Fäden verarbeitet werden mussten. Die starken Taue benutzte die Schifffahrt früher zur Befestigung des Ankers (abgelöst durch die Ankerkette) und dann weiterhin als Schlepptau.
Mittelstark war das stehende Tauwerk (etwa von 6-40 cm im Umfang) für Wanten, Stargen, Pardunen, das die Masten befestigte, damit diese auf dem Schiff ausgespannt stehen blieben, daher der Name stehendes Tauwerk. Relativ dünnes Tauwerk war das laufende Tauwerk, das über Rollen beweglich war und zum Ziehen und Einholen der Segel diente. Weiterhin lieferte der Reifer Lieke (zum Einfassen der Segel), Garn zum Strecken der Heringsnetze und alles Segelgarn (zum Reparieren und Ausbessern der Segel).
Sämtliche Reiferprodukte für den Segelschiffbau waren direkt dem Wasser oder Feuchtigkeit ausgesetzt und erforderten daher einen besonderen Schutz für die Naturfasern. Über Jahrhunderte half hier das Teeren des Materials, was wiederum vom Wissen und der praktischen Erfahrung des Meisters abhing. Zuviel oder zu harzreicher Teer machte die Seile nach dem Trocknen brüchig. Bei sehr dicken Tauen half nur, schon vorher einzelne Fäden oder zumindest ganze Litzen zu teeren.
Die Entwicklung von Technik und Industrie brachte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts das stabile Drahtseil hervor. Es war zwar wesentlicher fester als ein Hanfseil, aber auch starrer und weniger beweglich, denn noch ein geteertes Hanfseil ist zu 10-15 % dehnbar. Deshalb erfand man das „Drahtseil mit Seele“, es wurde für die Beweglichkeit im Innern als Hanfseil ausgestattet.
Mit der zunehmenden Konkurrenz, nicht zuletzt durch Hanffabriken in einigen Regionen Deutschlands, änderte sich die Produktpalette. Die Seiler mussten flexibel sein und sich dem heimischen Markt anpassen, sodass immer noch ausreichend Arbeit vorhanden war. Zu den ferneren Arbeiten des Reifes gehörten Peitschenschnüre, die geklöppelt wurden und verschiedene Arten von Bindfaden (Spagat) sowie Wäscheleinen.
Hauptsächlich in der Ratsschreiberei, bei Kaufleuten, bei den Handwerkern und in den Haushaltungen war starker Bindfaden ein unentbehrlicher Artikel. Gröberer Spagat wurde hauptsächlich zum Binden genommen, feinerer zum Nähen für Sattler, Schuster, Handschuhmacher, Beutler oder Matratzenmacher. Auf Knäuel gewunden wurde Bindfaden nach Gewicht abgesetzt. Die Leute brauchten Fliegennetze, Fischer- und Vogelnetze, Strickleitern, Spannseile, Sackband, Maurerschnur oder Gewichtsschnüre für Uhren; die Liste der Seiler- und Reiferprodukte ließe sich noch fortsetzen.
1858 erwarb ein Reifergeselle das Rostocker Bürgerrecht. Im Jahr 1907 arbeiteten im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin 108 Reifer- und Seilermeister mit 180 Beschäftigten.
1931 wurde in Rostock die letzte gedeckte Bahn der an der Paulstraße gelegenen Reiferbahn, zwischen Alexandrinenstraße und Hermannstraße, zugunsten von Promenadenanlagen abgebrochen. Eines der letzten Wahrzeichen des alten Rostocker Handwerks verschwand aus dem Stadtbild.
Autorin: Hannelore Kuna