Haff-Verlag
Texte zum historischen Handwerk in Mecklenburg- Vorpommern
Der Turmdecker - Hoch hinaus
Wo für die meisten die normalen menschlichen Grenzen liegen, dort beginnt ihre Arbeit, in der Höhe, wo vielen schwindlig wird. Turmdecker bzw. Turmdachdecker liefern Spezialarbeit in Perfektion, früher wie heute. Neubau, Restaurationen, Sanierung und Reparaturen von Turmdächern mit Fichten-, Lärchen-, Eichen- und Zedernschindeln, Kupfer- und Zinkblech, Schiefer- oder Steinplatten zählen zu ihren Dienstleistungen, ebenso das Anbringen von Wetterhähnen, Wetterfahnen, Turmschmuck oder Blitzableitern.
Viel Arbeit gab es für die Turmdecker in Pommern seit dem Mittelalter, insbesondere durch den Bau der Gotteshäuser mit ihren oft über 80 Meter hohen Türmen. In den Seestädten Greifswald, Kolberg oder Stralsund dienten die Türme zugleich als Landmarken für die Schifffahrt und waren in alten Seekarten eingezeichnet.
E. T. A Hoffmann lässt in seinen Elixiere(n) des Teufels sagen: „zu viel Spirituöses genossen und nun wie ein schwindliger Turmdecker“; aber das ist nur ein literarischer Spruch, denn Schnaps und Bier konnte sich dieser Berufsstand bei der Arbeit, wie in manch anderen Gewerken, wahrlich nicht leisten. Eine luftige Arbeitshöhe von bis zu und auch über 100 Metern und präzise Handwerkerarbeit bei einer Steilheit der Außenwand von 80 Prozent, insbesondere bei den mittelalterlichen Helm- oder Spitztürmen; diese schwierigen Arbeitsbedingungen, erforderten vom Turmdecker gediegenes fachliches Können, Geschicklichkeit und Mut. Gefahrvolle Arbeit am Seil war Alltag und sogar das Werkzeug Zangen, Schaleisen und Hammer mussten festgebunden werden, damit sie nicht gefahrbringend in die Tiefe fielen. Zur Arbeitshilfe, insbesondere zur Materialablegung, wurden Hängegerüste an Seilen geschaffen und zum Aufzug der Flaschenzug benutzt, ja einen modernen Kran gab es noch nicht.
Die älteste und meist verwendete Turmhaut ist das feuersichere Kupfer. Bei der Verlegung von Kupferblech war der Turmdecker im heutigen Sinne ein Klempner. Gut vorgenommene Kupferdeckungen halten viele Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte. 1586 wurde der Turm von St. Nikolai in Anklam mit Kupfer neu eingedeckt. Die Kupferdeckung am Hildesheimer Dom soll über 700 Jahre alt sein. Dann musste es natürlich gutes Kupferblech und das Material sorgfältig genagelt und miteinander verpfalzt sein. Denn Kupferblech ist im Jahresverlauf Temperaturdifferenzen bis zu 100 Grad ausgesetzt, im Sommer durch die Sonneneinstrahlung einer Hitze von 80 Grad und im Winter einer Kälte bis zu 20 Grad Celsius.
Vielfach verwendeten die Turmdeckermeister dann als Ersatz für das teure Kupfer, die Eichenschindeldeckung auf Schalung, so beispielsweise für den Schlossturm in Ueckermünde nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dort war allerdings das meiste Kupfer vom Schloss- und vom Turmdach während der Kriegszeiten gestohlen worden. Das Eichenholz wurde grundsätzlich handgefertigt, in dünnen viereckigen Tafeln geschnitzt, damit sich die Dachdeckung jeder architektonischen Bauform anpassen konnte. Eichenschindeln eigneten sich für komplizierte Dächer und Formen, beispielsweise für gotische Turmhelme, barocke Hauben, Zwiebeltürme sowie neugotische Kirchturmspitzen. Mit dem biegsamen Material gelang es dem Turmdecker jedem noch so kunstvollen und schwierigen Umriss zu folgen, bis die Schindeln schließlich ein dichtes genageltes Schuppenkleid bildeten, welches das Gebäude vor Nässe schützte und jede Schwingung, jede Brechung, jeden Dachabsatz elastisch machten. Zum besseren Schutz vor Feuchtigkeit und gegen Fäulnis behandelte der Turmdecker die Schindeln abschließend mit Öl. Der große Nachteil dieser Holzdeckung war die im Vergleich zu Metalldächern leichte Brennbarkeit, ähnlich wie die von Stroh und Schilfdächern, und die geringere Haltbarkeit geschätzt auf etwa 50 Jahre.
Eine dritte Turmhaut bestand aus Schiefer. Das Material erwies sich als eine der besten und haltbarsten Bedachungen überhaupt für alte Burgen, Dome, Schlösser, Stadttore und Kirchen. Wegen des schwierigen und teuren Transports aus dem süddeutschen Raum wurde in Anklam, Stralsund oder Stettin hauptsächlich mit englischem Schiefer gedeckt, der über See her kam.
War das Dach des Turms eingedeckt, war der Turm insgesamt noch nicht fertig. Traditionell wurde über der Turmspitze die Turmstange angebracht, an der Knopf, Wetterhahn und Kreuz befestigt werden konnten. Der Knopf oder die Hohlkugel aus Metall, häufig noch vergoldet, diente der Erinnerung. Für die nächsten Generationen legte man ein amtliches Dokument, gängige Münzen, Nachrichten über Wein- und Bierpreise und später eine Zeitung ein, verewigte die Namen der Ratsmitglieder, des Pfarrherren und des Baumeisters in der Kugel. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde zum Schutz vor Blitzeinschlag ein Blitzableiter angebracht, 1802 erhielt der Turm von St. Nikolai in Anklam erstmals einen Blitzableiter.
Einmal mit Kupfer gedeckt, hält für die Ewigkeit, könnte man denke. Dem war aber nicht so, für Norddeutschland wäre eine Geschichte der Kirchturmspitzeneinstürze bzw. Turmeinstürze insbesondere durch Sturm, Orkan und Blitzschlag zu schreiben. Die Städte Pommerns bildeten da keine Ausnahme. 1478 war der Kirchturm von St. Marien in Stralsund fertig gestellt, nahm die imposante Höhe von 151 Metern ein, 1647 wurde er durch Blitzschlag zerstört und entstand 1708 in Höhe von 104 m neu. Der Turm vom Greifswalder Dom St. Nikolai verlor gleich zweimal seine Spitze. 1457 wurde mit der Kirchenerweiterung der Turm ausgebaut, 1480-1500 kamen ein achteckiger Aufsatz und eine ebenfalls achteckige gotische Spitze hinzu, womit der Turm die Gesamthöhe von 120 Metern erreichte. Und dann ging es stürmisch zu. Das erste Mal wurde der Turmhelm im Jahre 1515 heruntergerissen und erst 1609 wieder hergestellt. Katastrophaler wirkte sich der Absturz durch Sturm am 13. Februar 1650 aus, der das Kirchendach und das Gewölbe vom Mittel- und Seitenschiff zerstörte sowie die östliche Giebelwand zum Einsturz brachte. Die Bewohner Greifswalds, von Stralsund und Anklam und die schwedische Königin spendeten Geld für Baumaterial und Handwerksarbeit. Bereits einen Monat nach dem Zusammenbruch konnte mit dem Wiederaufbau der Kirche unter der Leitung Stralsunder Handwerker begonnen werden. 1651 waren die Dächer und Gewölbe wieder hergestellt, ein Jahr später erhielt der Turm seine neue barocke Spitze mit Kupferdeckung und um 1653 war auch der Bau des neuen östlichen Giebeldreiecks abgeschlossen.
Und dann kamen die Weltkriege, die Jahre 1917 und 1942, als Turmdecker das Kupfer von Kirchtürmen für Kriegszwecke abdecken mussten und zur Not Zinkblech oder Eichenschindeln drauf kamen. Aus diesem Grund erhielt beispielsweise der Domturm in Schwerin, der erst 1892 erbaut wurde, im Jahr 1969 seine dritte Kupferdeckung mit einer Fläche von 1600 m2.
Autorin: Hannelore Kuna.
Höchste Kirchtürme
Die größten Kirchtürme in Mecklenburg und Vorpommern erreichen eine Höhe von über 80 Metern. Auf diese Ausmaße sind noch heute 8 Stück zu zählen: Barth (St. Marien-Turmhöhe 80,50 m), Demmin (St. Bartholomäus), Greifswald (St. Nikolai), Rostock (St. Marien- 86,2 m), Schwerin (Dom-117 m), Stralsund (St. Marin und St. Nikolai) und in Wismar (St. Marien-80 m). Vor dem 2. Weltkrieg gab es noch mehr Turmriesen. Durch Bombenhagel wurden St. Nikolai in Anklam, St. Marien in Neubrandenburg und in Rostock St. Jakobi (1956 abgetragen) sowie St. Petri zerstört.
Die zwei höchsten Kirchtürme heute stehen mit etwa 117 m in Rostock und Schwerin. Die Rostocker St. Petri-Kirche besaß schon frühzeitig einen Kirchturm in dieser Höhe. Das Gotteshaus entstand mit der deutschen Stadt nach 1200. Mitte 1400 wurde die Kirche neu erbaut, um 1500 kam ein Turm mit der imposanten Größe von 126 m hinzu, der auch für die Orientierung der Schiffe auf See von Bedeutung war. 1543 vernichtete ein Brand den Petri-Turm, der dann genau 1577 im gotischen Stil mit 117,22 m wieder aufgebaut wurde. Als Landmarke war er nun erstmalig in Seekarten verzeichnet.
Ungezählt sind die Schäden durch Unwetter und Blitzeinschlag. Im April 1942 zerstörten dann britische Bomben die Petri-Kirche. 1954 war das Nordschiff als erstes wieder nutzbar. Aber erst 1992 bis 1995 erfolgte der Wiederaufbau des Turmhelms auf dem erhalten gebliebenen 48 m Turmsockel. Rostock hatte ein markantes Wahrzeichen zurück.
Weit jüngeren Datums ist der Turm des Schweriner Doms, der ebenfalls eine Höhe von 117 Meter, genau 117,5 Meter aufweist.
Auch der Schweriner Dom wurde im Verlauf seiner Baugeschichte mehrmals aufgebaut und geweiht; 1171 in Holzbau, als romanischer Bau ab 1249 und von 1270 bis 1374 zur gotischen Kathedrale. Bis 1890 behielt der Dom seinen spätromanischen Turmbau. Ein umfangreiches Umbauprojekt stellten die Schweriner erstmals 1838 vor, dafür gründeten sie 1844 einen Domverein, aber erst 1889 konnte der Grundstein zum Neubau gelegt werden. Im Jahr 1892 war der neugotische Turm mit einer Höhe von 117 m fertig gestellt und dem Rostocker Petri-Kirchturm „nachgewachsen“. Beide Türme haben eine Aussichtsplattform.
Autorin: Hannelore Kuna.